Freie Waldorfschule Trier

„Das Kind in Ehrfurcht aufnehmen, in Liebe erziehen und in Freiheit entlassen.“ Rudolf Steiner

Annäherungen an das Arbeitsleben

In Zwölftklässler-Rückblicken tauchen die Praktika als unverzichtbare Erfahrungen auf. Man genoss den Abstand zur Schule und zum Familienleben und freute sich über neue Erlebnisfelder. Praktika in der Waldorfschule sollen einer dreifachen, dem jeweiligen Entwicklungsstand angemessenen Horizonterweiterung dienen.

In der 9. Klasse geht es um die Landwirtschaft: Was ringt der Mensch der Natur ab, um seine Ernährung und sein Wohlbefinden sicherzustellen? Welchen Sinn hat artgerechte Tierhaltung für Tiere und Menschen? Was bedeutet Pflege einer Kulturlandschaft? Wie fühlt es sich an, einen Tag lang draußen zu arbeiten? Wie schätzenswert ist das, was ich sonst vielleicht eher gedankenlos konsumiere: mein Frühstücksei, mein Pausenapfel, mein Wollpulli?

In der 10. Klasse werden die SchülerInnen aufgefordert, sich ihren Praktikumsplatz in einem Industriebetrieb für vier Wochen selbst zu suchen. Anfrage, Bewerbung oder eine persönliche Vorstellung sind jetzt erforderlich. Regeln des Berufslebens, Fragen der Planung und Wirtschaftlichkeit, Probleme des Arbeitsschutzes oder der sozialen Gerechtigkeit führen an neue Zusammenhänge heran. Manch einer entdeckt seinen Traumjob oder kann falsche Vorstellungen korrigieren und viele freuen sich darauf, wieder in die Schule mit ihrem abwechslungsreichen Programm zurückkehren zu dürfen.

In der 11. Klasse bildet das Sozialpraktikum den krönenden Abschluss der außerschulischen Lernorte. Die Hinwendung zum hilfsbedürftigen Menschen in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen steht für die sozial gereiften Schüler und Schülerinnen jetzt im Vordergrund. Manche verknüpfen dieses Praktikum mit einem Auslandsaufenthalt.

Alle Praktika werden von den KlassenbetreuerInnen durch persönlichen Besuch oder zumindest telefonischen Kontakt begleitet. Schriftlich und mündlich referieren die PraktikantInnen ihre Erfahrungen. In einem persönlichen Portfolio nimmt es sich gut aus, wenn man diese reichhaltigen Erfahrungen bei Bewerbungen nachweisen kann.

Das Landwirtschaftspraktikum in der 9. Klasse

Zum Abschluss der Gartenbauzeit findet in der 9. Klasse ein Landwirtschaftspraktikum statt. Die SchülerInnen verlassen den Klassenverband, um - in der Regel zu zweit - auf einem biologischen oder biologisch-dynamischen Bauernhof bzw. in einer Gärtnerei intensive Arbeitserfahrungen machen zu können. Die Höfe, die unserer Schule teilweise schon seit 1987 zur Verfügung stehen, befinden sich in Deutschland,, aber auch in Belgien, Luxemburg und Frankreich. Die SchülerInnen wohnen und arbeiten dort entsprechend dem Tagesrhythmus, der das Hofgeschehen bestimmt. So lernen sie den Umgang mit Kühen, Schweinen, Hühnern usw. kennen. Stallarbeiten, wie das Ausmisten, Melken der Kühe, Versorgen und Füttern der Kälber, sind meist die Arbeiten, die den Tag einleiten und beenden. Dazwischen wird, je nach Betrieb, z.B. Käse hergestellt oder Brot gebacken, die Kühe müssen auf die Weide getrieben, Zäune versetzt, Hühner gefüttert und Eier gesammelt werden. Es ist die Zeit der Silo- und Heuwerbung. Die Kartoffeln, Rüben und der Kohl werden gehackt und vieles mehr.

All diese vielfältigen Eindrücke sind verbunden mit anstrengender Arbeit. Manch ein/e SchülerIn wird dabei auch an seine, ihre Grenzen geführt. Das Gelingen und Durchstehen dieser Zeit hängt vor allem von einer guten sozialen Einbindung ab. Die Eindrücke des anderen Familienzusammenhangs, der Tischgewohnheiten, des anderen Essens usw. gehen mindestens so tief wie die vorher genannten. Einige Tage vergehen schon, bis man sich kennengelernt hat und versteht. Doch lässt ein gutes gegenseitiges Verhältnis auch die unangenehme Arbeit nur halb so schwer erscheinen. Die SchülerInnen genießen es in der Regel, der Schule fern zu sein, keine Hausaufgaben machen zu müssen, die Kopfarbeit ein bisschen zu vergessen, und fühlen sich wohl in diesem ganz anderen Dasein auf dem Hof. Wenn sie dann in der Schule sich gegenseitig vor der Klasse berichten, bedauern manche, dass die Zeit schon vorbei ist. Einige besuchen dann in den Ferien wieder ihre Höfe. Doch ist auch wieder eine gewisse Lust auf den Unterricht zu spüren. Oft ist dann auch eine intensivere schulische Arbeitshaltung wahrnehmbar, so dass die Schulzeit durch dieses Praktikum befruchtet wird. Jede/r SchülerIn führt über seine/ihre Arbeit ein Berichtsheft mit einer Hofbeschreibung.

Bernd Bleffert

Das Betriebspraktikum in der 10. Klasse

Das Anliegen des seit 1994 eingerichteten zweiwöchigen Praktikums liegt nicht darin, in einen möglichen späteren Beruf hineinschnuppern zu können, sondern die SchülerInnen sollen einen Einblick in die heutige Arbeitswelt gewinnen dürfen. Für die Auswahl der Praktikumsstellen ist es dank der freundlichen Starthilfe aus dem Arbeitsamt möglich, den SchülerInnen viele Vorschläge zu unterbreiten in Betrieben mit industrieller Produktion oder aus dem verarbeitenden Bereich, des Dienstleistungs- und des Unterhaltungssektors. Bei der jeweiligen Nachbesprechung des Praktikums und in den Berichtsheften kommt stets ein weitgefächertes Bild der Arbeitswelt zusammen.

Und alle haben mit ähnlichen Anforderungen zu tun: angemessene Bewerbung, pünktliches Erscheinen zu Arbeitsbeginn, Zurechtfinden in ganz ungewohnter Umgebung, Monotonie in Arbeitsabläufen, Achtstundentag, Umgang mit Mitarbeitern und Vorgesetzten u.a..

Die Erfahrung zeigt, dass sich fast alle SchülerInnen in lobenswerter Weise einsetzen, meist über das in der Schule gewohnte Maß hinaus. Die betreuenden Lehrer berichten, dass sich die Meister, Chefs und Vorgesetzten viel Zeit nehmen, ihnen den ganzen Betrieb zu zeigen und Abläufe zu erläutern (Nebeneffekt: Nachhilfe in Allgemeinbildung für die Lehrer!). Annähernd jedesmal betonen diese Menschen, wie höflich, arbeitsam und ideenreich unsere SchülerInnen doch seien; außerdem zeigen viele für die Prinzipien der Waldorfpädagogik Interesse, nachdem sie die WaldorfschülerInnen kennengelernt haben.

Und eine Selbsterfahrung nehmen die Jugendlichen mit: „Ich habe gesehen, wie hart es ist, in einer Fabrik zu arbeiten. Ich habe Respekt und Achtung vor den Menschen, die dort arbeiten.“ (Gina B.-F.)

Das Feldmesspraktikum in der 11. Klasse

Im Feldmesspraktikum am Anfang der 11. Klasse werden die zuvor im Mathematikunterricht erarbeiteten Gesetzmäßigkeiten praktisch angewendet. Fern der Heimat vermessen und kartographieren wir ein Gelände, für das eine konkrete Fragestellung vorliegt. Dies können Aufgaben zum Schutz der Natur oder von Kulturgütern sein, für die eine gegenüber amtlichen Karten höhere Genauigkeit gefordert ist oder für die es derzeit keine finanziellen Mittel gibt. Im Einzelnen gilt es, folgende Arbeitsschritte zu meistern:

  • orientierende Aufnahme mit Kompass und Schrittmaß,

  • präzise Winkelmessungen mit einem professionellen Theodoliten,

  • präzise höhenkorrigierte Längenmessungen mit Messlatten,

  • Kontrolle der Messungen mittels Trigonometrie,

  • Feinvermessung mit Winkelprisma und Bandmaß,

  • Zeichnen einer farbigen Karte im Maßstab 1:1.000 mit Legende.

Durch die eigene Leistung, die Zusammenarbeit innerhalb einer Gruppe und der Gruppen untereinander werden Messwerte gewonnen, die zu einem Gesamtplan des Geländes führen Hierbei ist nicht nur klares Denken sondern vor allem Genauigkeit und Geduld gefordert. Gerade eine Protokollführung, die Missverständnisse ausschließt, will gelernt sein. Aber es werden auch Selbstdisziplin, Verantwortungsbewusstsein und Teamfähigkeit abverlangt, um am Ende zu brauchbaren Karten zu kommen. Unausweichlich offenbaren sich alle Ungenauigkeiten auf dem Papier und fordern Berichtigung: nicht der Lehrer, sondern eine objektive Gesetzmäßigkeit korrigiert!

Verschiedene Ansichten oder gar Konflikte müssen von den Schülern selbst gelöst werden. Wind und Regen tun oft ihr Übriges. Dabei erfahren die Schüler, denen die Welt in dieser Altersstufe oft widersprüchlich und ohne Zusammenhang erscheint, dass sie aus eigener Kraft zuverlässige Orientierung gewinnen können. Und nicht zuletzt das Zusammensein der Schüler und Lehrer rund um die Uhr fördert die menschlichen Beziehungen über das Praktikum hinaus.

Das Sozialpraktikum in der 11. Klasse

Im zweiten Halbjahr der 11.Klasse engagieren sich die SchülerInnen zwei bis drei Wochen in einem anderen sozialen Zusammenhang, außerhalb der Schule.

Gemäß dem Anliegen des Lehrplans der elften Klasse, soll das Praktikum den seelischen Reifeprozess des jungen Menschen unterstützen. Mit 16/17 Jahren erlebt und erkennt der Jugendliche immer bewusster seine eigene seelische Innerlichkeit mit ihren Licht-, aber auch Schattenseiten. Im Unterricht setzt er sich mit diesen Erfahrungen anhand geeigneter Inhalte exemplarisch auseinander und erhält so eine Hilfe, immer nuancierter und angemessener seelische Qualitäten und Reaktionen bei sich und anderen zu beurteilen und mit ihnen umzugehen.

Im Sozialpraktikum wird die Distanz zum "Unterrichtsstoff" verringert, denn die SchülerInnen begegnen jetzt konkreten Menschen mit ihrem je speziellen Schicksal, ihrem Glück oder Leid, ihrer Einsamkeit oder Eingebundenheit u.Ä. Die aktive Beschäftigung mit den Sorgen und Nöten zunächst fremder Menschen trägt dazu bei, dass sich die eigenen seelischen Befindlichkeiten klären und relativieren. Somit unterstützt das Sozialpraktikum die Entwicklung des Jugendlichen hin zu größerer Urteilsfähigkeit, bei dem einen oder anderen unter Umständen sogar besser und nachhaltiger als es der reguläre Unterricht kann.

Die Schulgemeinschaft bedankt sich an dieser Stelle bei all den Persönlichkeiten in den verschiedenen Institutionen, die jedes Jahr unsere Elftklässler so engagiert betreuen.